Anspannung (2019)
3. November 1929, Paris; ein Stuhl mit dem Namen »Chaise Sandows« wird ausgestellt. Keine zwei Wochen zuvor brach die Weltwirtschaft in sich zusammen. Der Gestalter René Herbst führt mit seinem Stuhl aus Stahlrohr und Expanderseilen das Prinzip der Anspannung vor; 3. Juli 2019, Leipzig; ein Stuhl mit dem Namen »Chaise Sandows« wird ausgestellt. Zurück liegt eine globale Finanzkrise. Wo am Stuhl statische Querstreben waren, befinden sich flexible Gewindestangen. Der Stuhl erzeugt Anspannung wie aus sich selbst heraus.
»Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce« (Karl Marx)
Was es bedeutet, dass einer ein Seil spannt; was es bedeutet, dass einem die Nerven sich anspannen – darüber begann ich im Oktober 2015 nachzudenken. »Anspannung. Eine Tragödie in zwei Akten« ist eine Inszenierung, welche ich bis Juli 2019 aus meiner gleichnamigen Werkgruppe »Anspannung« entwickelt habe. Die erarbeiteten Texte, das typografische Konzept, Objekte, Bilder und Videos waren Grundlage zur Konzeption von Dialog, Handlung und Bühnenraum. Nach der Methode des literarischen Essays habe ich versucht, anhand von Momenten mechanischer, psychologischer und ökonomischer Anspannung eine Idee davon zu entwickeln, wie Anspannung wirkt und wie ihre Gegenwart sich historisch konstituiert. Nach einem einführenden Prolog gliedert sich der Aufbau in zwei Akte. Das Gesellschaftsspiel »The Landlords Game« [1], die Weltwirtschaftskrise 1929 [2], das Prinzip Anspannung in der Physik [3] und der Stuhl »Chaise Sandows« [4] bilden als Fragmente den Inhalt der vier Szenen des ersten Aktes; das Plagiat »Monopoly« [1], die Finanzkrise 2008 [2], das Prinzip Anspannung in der Psychologie [3] und meine Neuinterpretation des Stuhls [4] die vier Szenen des zweiten Aktes. Den Bühnenraum definieren vier Stuhl-Nachbauten und eine Projektion mit Text, Fotografien und Videos. Zwei DarstellerInnen berichten von den Ereignissen, assoziieren, ergänzen und widersprechen sich dabei. Durch Sprachintensität und Beschleunigung einerseits, durch Bewegung und Positionierung um die stufenweise angespannten Objekte andererseits, erzeugen sie im Stückverlauf Spannung. Historisch nicht erkannt, erscheint die vorgeführte Wiederholung dem Publikum als Tragödie. Durch Tonlage und Motiv der Inszenierung thematisiert, soll die subjektive Erfahrung von Anspannung kollektiv erlebt und als gesellschaftliche Erscheinung erkennbar werden. Bewusst geworden und angeeignet kann sie emanzipatives Mittel sein gegen die Ursache der Anspannung selbst.
Im Rahmen meiner Diplomprüfung am 3. Juli 2019 gab es eine erste Aufführung mit den SchauspielerInnen Anastasia Heller (Neues Theater Halle) und Clemens Kersten (Neues Theater Halle). Darauf folgte eine Einladung zum Festival »Bühne Total« am Bauhaus Dessau. Vom 11.–15.9.2019 war dort das Bühnenbild und eine Publikation mit Bildern und Skript zu sehen, sowie ein Hörstück mit einer von Paul Trempnau (Schauspiel Leipzig) und Nina Wolf (Schauspiel Leipzig) eingesprochenen Variante des Dialogs ausgestellt. Am Abend vom Bauhausfest 2019 gab es eine weitere Aufführung mit Sophia Eisenhut (HGB Leipzig) und Clemens Kersten (Neues Theater Halle).
Mit Anastasia Nadja Heller, Clemens Kersten, Sophia Eisenhut
Sound-Installation mit Nina Wolf, Paul Trempnau
Regie, Skript, Installation: Tobias Klett
© 2019
© Tobias Klett, 2023